Hinweis: Recherchen und Interviews für diesen Artikel wurden vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie geführt.
Van Ji-ins Tochter ist vor kurzem zwei Jahre alt geworden, und einer ihrer liebsten Spielorte ist das Mehl-Kinderkaffee. Die Anlage im fünften Stock eines Geschäfts- und Bürohauses in einer kleinen Stadt nordöstlich von Seoul ähnelt einem Indoor-Spielplatz: Es gibt abgeteilte Spielbereiche mit Rutschen, Spielzeug-Lastwagen und Baggern sowie Sandbackformen. Nur, dass es keinen Sand gibt, sondern Mehl. „Spielplätze haben hier keine Sandkästen. Diese sauber zu halten, wäre zu aufwendig. Aber mit weichen Materialien wie Sand oder eben Mehl zu spielen, soll den Tastsinn der Kinder schärfen“, meint Van Ji-in schulterzuckend, während sie durch eine Glasscheibe hindurch ihrer von Kopf bis Fuß weiß gepuderten Tochter beim betreuten Spielen im Mehlkasten zusieht. Umgerechnet etwa 10 bis 12 Euro pro Stunde und Kind kostet der Spielspaß im Mehl inklusive Betreuung durch eine Angestellte.

Zurück in der Wohnung der dreiköpfigen Familie in einem der für Südkorea typischen Apartmenthochhäuser wird schnell klar: Auch zu Hause mangelt es der Kleinen nicht an Spielzeug. Das eigene Zimmer ist der Traum eines jeden Kindes und, wie könnte es in Südkorea anders sein, auf dem neuesten Stand der Technik. Eine Spielküche hat Induktionsherdplatten, die nach dem Einschalten leuchten, die Tür zum Puppenhaus spricht, das Töpfchen in Form einer Miniaturtoilette macht Spülgeräusche. Es gibt einen Boxsack, ein Tablet mit Kinderspielen und ein Kinderbuchregal, das besser ausgestattet ist als jedes Buchgeschäft.
Kinder in Südkorea verlangen schon vor der Geburt nicht nur die volle Aufmerksamkeit, sondern auch ein volles Konto.
Wenn eine Frau in Südkorea ihre Schwangerschaft beim ersten Arztbesuch bestätigen lässt, führt sie der Weg danach erst einmal zur nächstgelegenen Bank. Dort bekommt sie eine Karte, ausgestellt vom Staat, mit einem Guthaben von 600.000 Won, umgerechnet etwa 470 Euro. Erwartet eine Frau Zwillinge, erhöht sich das Guthaben auf 1.000.000 Won (etwa 780 Euro). Dieses Geld kann die Frau nach Belieben nutzen, also entweder für Vorsorgeuntersuchungen oder für den Krankenhausaufenthalt während der Geburt. Schwangerschaften und Geburten werden in Südkorea nicht von der Krankenkasse unterstützt, sondern sind, bis auf den staatlichen Zuschuss, aus eigener Tasche zu zahlen.
Je nach Krankenhaus, in dem das Baby das Licht der Welt erblickt, unterscheiden sich die Preise für eine Geburt. Eine reguläre Geburt beginnt bei knapp 400 Euro, kann für einen Kaiserschnitt aber auf über 1.500 Euro steigen.
Während in Deutschland regulär drei Ultraschalluntersuchungen von der Krankenkasse übernommen werden, zahlt man für eine normale Ultraschalluntersuchung in Seoul (Preise in Krankenhäusern außerhalb von Seoul können deutlich niedriger ausfallen) um die 100 Euro. Ab dem ersten Arztbesuch in der 6. oder 7. Schwangerschaftswoche ist es in Südkorea üblich, bis zur 28. Schwangerschaftswoche einmal pro Monat zur Vorsorge zu gehen. Danach alle zwei Wochen, ab der 36. Schwangerschaftswoche einmal pro Woche. Bei jedem Besuch werden Gewicht und Blutdruck kontrolliert sowie ein Ultraschallbild aufgenommen. Weitere Untersuchungen wie Tests auf Schwangerschaftsdiabetes oder ein 3D-Ultraschall kosten extra. Wird während der Schwangerschaft übrigens eine Behinderung des ungeborenen Kindes festgestellt, kann beim Staat zusätzlich finanzielle Hilfe beantragt werden.
Nach der Geburt gehen die Frauen zusammen mit dem Neugeborenen für zwei Wochen in eine Art Wochenbetthotel. Dort bekommen Mutter und Kind eine 24-Stunden-Rund-um-Versorgung durch Hebammen und Krankenschwestern. Den Müttern wird beigebracht, wie sie ihre Kinder füttern, wickeln und baden müssen. Es gibt tägliche Kurse in Yoga, Schwangerschaftsrückbildungsgymnastik und in Kindergesundheit. Wie erkennt man Erkältungssymptome? Was tun bei Fieber? Diese Form der Geburtennachsorge in Südkorea ist weltweit wohl einzigartig. Auch Van Ji-in kann sich diese koreaeigene Tradition nicht so richtig erklären: „Ich finde das schon ein bisschen lustig, dass es das nur bei uns gibt“.

Das günstigste dieser Wochenbetthotels in Seoul verlangt etwa 1.400 Euro für zwei Wochen. Laut Van Ji-in kann der Preis für ein luxuriöses Wochenbetthotel dagegen umgerechnet bis zu 10.000 Euro betragen. Dabei ist es nicht selten der Fall, dass diese trotz oder gerade wegen des Preises vollkommen ausgebucht sind. Ein konkretes Beispiel für ein Wochenbetthotel am östlichen Stadtrand Seouls. Zwei Wochen Aufenthalt in dieser Einrichtung kosten 2.200 Euro. In diesem Preis mit inbegriffen sind: Drei Haupt- und drei Zwischenmahlzeiten pro Tag inklusive der koreanischen Seetangsuppe Miyeok-guk, die aufgrund ihres hohen Eisengehalts die Frauen schnell wieder zu Kräften bringen soll. Darüber hinaus umfasst der Preis die Betreuung des Neugeborenen sowie der Mutter, einen Putz- und Waschdienst, Pflege und Waschen von Mutter und Kind, vier Mal Massage für die Mutter sowie sonstige Nebenkosten. Bei Zwillingen werden in dieser Einrichtung zusätzliche Kosten in Höhe von noch einmal 1.100 Euro berechnet. Darüber hinaus gibt es ein umfangreiches Wochenprogramm, mit mindestens zwei Veranstaltungen pro Tag. Von den erwähnten Sportkursen und Unterrichtsstunden in Babykunde bis hin zu Bastelkursen sowie Behandlungen mit traditioneller koreanischer Medizin reicht das Angebot. Am Wochenende werden die Väter unterrichtet, wie sie ihre Kinder richtig baden. Nicht zu vergessen ein obligatorisches, postnatales Fotoshooting.
Verzichtet eine Frau auf diese zwei Wochen Rundumversorgung und geht direkt nach Hause, dann kann sie die Hilfe eines teilweise staatlich finanzierten Geburtsnachsorgedienstes, ähnlich der in Deutschland üblichen Hebamme, in Anspruch nehmen. Auch der staatliche Zuschuss hierfür ist erst seit kurzem eingeführt worden. Für Menschen, die sich das alles nicht leisten können, wird eine Hebamme kostenlos gestellt.
Was das Impfen des Babys angeht, so sind die Pflichtimpfungen kostenlos. Eine Impfung gegen Rotaviren, die in Deutschland seit Juli 2013 durch die Ständige Impfkommission für alle Säuglinge ab der 6. Lebenswoche empfohlen wird, ist in Südkorea dagegen nicht in den Standartimpfungen mit inbegriffen und muss extra bezahlt werden.
Wird der Kinderarm nach der Impfung dick oder hat das Baby plötzlich Ausschlag, dann holen sich viele Mütter in Südkorea Rat im Internet. In Internet-Foren oder Blogs tauschen sich die Frauen untereinander aus und geben Ratschläge. Von dem besagten Babyarm wird ein Foto geschossen, hochgeladen und von anderen Müttern kommentiert. Hier finden sich aber auch Beiträge wie: „Ich habe von meinen Schwiegereltern zur Geburt nur 800 Euro geschenkt bekommen“. „Früher“, so Van Ji-in, die selbst eine erfolgreiche Bloggerin ist, „las man dann Kommentare, die die Entrüstung der Mutter teilten. Heute scheinen die Leute langsam zu Verstand zu kommen und man liest jetzt immer öfter, dass man dankbar sein soll für das, was man bekommt“.
Geld- oder Luxusgeschenke der Eltern und/oder Schwiegereltern nach Bekanntgabe einer Schwangerschaft ist eine Tradition, die sich erst seit etwa zehn Jahren in Südkorea gebildet hat. Hierbei bewegt man sich bei den Geldgeschenken um Beträge von rund 8.000 Euro, bei einem materiellen Geschenk kann es sich um ein Auto handeln. Eine Tradition, die sich natürlich nicht jede Familie leisten kann.

Eine Regel, die allerdings auf alle Mütter nach der Geburt zutrifft, lautet: Im Monat nach der Geburt darf nicht geduscht und es dürfen keine Haare gewaschen werden sowie nichts Kaltes getrunken oder gegessen werden. Ein Gebot, von dem die meisten in Deutschland wohl noch nie etwas gehört haben dürften. Was dahinter steckt? „Es gibt ein altes Sprichwort in Korea: Der Wind zieht in die Kochen. Damit ist gemeint, dass wenn Frauen nach der Geburt bzw. im Alter rheumatische Beschwerden bekommen, dann, weil sie nach der Geburt nicht gut genug aufgepasst haben. So sagt man“, erklärt Van Ji-in. Bei westlichen Frauen sei das anders, die hätten schließlich ein größeres Becken und da verlaufe eine Geburt wesentlich leichter. Aber in Südkorea müsse man als Frau auf so etwas achten. „Mich hat das allerdings nicht gestört. Ich habe kaltes Wasser getrunken, geduscht und meine Haare gewaschen. Obwohl alle gesagt haben, ich solle das nicht tun“, meint Van Ji-in lachend und fügt hinzu: „Aber das ist sowieso von Frau zu Frau anders. Es gibt auch Frauen, die diese Volksweisheit beachtet und später trotzdem Probleme bekommen haben“.
Eine weitere alte Tradition besagt, dass bis zum 10. Geburtstag des Kindes jedes Jahr eine Süßspeise aus sogenannter Mohrenhirse gefüllt mit Roter Bohnenpaste gegessen werden muss, damit der Nachwuchs nicht krank wird und ein gutes Leben hat. Bei der Geburt eines Jungen werden vor der Haustür Chilischoten aufgehängt, um böse Geister vom Eindringen abzuhalten. Traditionen, die heute allerdings immer seltener werden.
Bis zum siebten Lebensjahr gibt es für alle Familien in Südkorea seit dem 1. Januar 2019 außerdem eine Art Babybonus vom Staat. Pro Kind beträgt dieser 100.000 Won pro Monat (ca. 79 Euro). Davor galt dieser nur bis zum sechsten Lebensjahr. Dass in Südkorea junge Familien nun mehr Geld bekommen, hat vor allem einen Grund: die niedrige Geburtenrate. Im Jahr 2019 lag diese laut OECD nur bei 0,92 Kindern pro Südkoreanerin und damit weit unter dem OECD-Durchschnitt von 1,63. Um die Bevölkerung stabil zu halten, müsste die Geburtenrate bei 2,1 Kindern pro Frau liegen. Bisherige Maßnahmen der Regierung zeigen allerdings kaum Wirkung. Ein Kind in Südkorea großzuziehen, muss man sich eben leisten können. „Ich glaube, es wäre viel sinnvoller, zum Beispiel das Bildungssystem kostenlos zu machen“, fügt Van Ji-in hinzu. Private Nachhilfe-Institute neben dem regulären Schulunterricht zum Beispiel sind ungeschriebenes Gesetz. Nur so erhöht sich die Chance, den Nachwuchs später auf eine renommierte Universität schicken zu können. Ein weiterer Grund, der damit eng verbunden ist: Viele junge Südkoreaner/innen möchten ihrem Nachwuchs den enormen Konkurrenzkampf der südkoreanischen Gesellschaft ersparen und entscheiden sich deshalb bewusst gegen Kinder. „Man vergleicht sich ständig mit anderen Familien und hat Sorgen, dass man seinem eigenen Kind nicht genug bieten kann“, stimmt Van Ji-in zu. Bei ihrer kleinen Tochter soll das mal anders werden. Sie soll die Welt sehen, Sprachen lernen und das tun, was ihr Spaß macht. Ein Poster mit dem lateinischen Alphabet hängt dafür bereits im Flur.
Text & Fotos: ©Bettina Dirauf
Ein besonderer Dank geht an Van Ji-in, die zu dem umfassenden Interview für Kultur Korea bereit war.