Ein Gastbeitrag von Joachim Dirauf
Jeder, der die südkoreanische Hauptstadt Seoul zum ersten Mal besucht, wird überrascht sein vom schieren Ausmaß des U-Bahn- und Nahverkehrsnetzes. Wenn es den ausländischen Besucher nicht sogar zeitweise überfordert. Auf jeden Fall ist die Seouler U-Bahn ein Hauptverkehrsmittel dieser 10-Millionen-Metropole und aus dem Alltag vieler Menschen nicht mehr wegzudenken. Kurz, sie ist eine absolute Erfolgsgeschichte.
Diese begann vor genau 45 Jahren. In den 1960er Jahren stieg die Bevölkerung Seouls aufgrund des Angebots von Arbeitsplätzen in der städtischen Industrie, die eine Landflucht, nach sich zog, stark an. Da es für diese große Anzahl von Menschen nicht genügend geeigneten Wohnraum gab, wuchsen die Elendsviertel der Stadt rasant. Zusätzlich litt Seoul unter der hohen Verkehrsbelastung. Der öffentliche Personennahverkehr, der bis dahin nur aus einigen Straßenbahnlinien und vielen Buslinien bestand, war vollkommen überlastet. Aus diesen Gründen beschloss die Seouler Stadtverwaltung, zusammen mit der Regierung Südkoreas ein U-Bahnnetz zu bauen. Der Entschluss wurde bereits Ende der 1960er Jahre getroffen, und im Anschluss wurde mit den Planungen begonnen. Anfangs wurde das technisch veraltete Straßenbahnsystem eingestellt. Jedoch wurde es als Grundlage mit in die Planungen aufgenommen, sodass einige der ältesten U-Bahnlinien Seouls immer noch zum Teil dem Verlauf der ehemaligen Straßenbahnroute entsprechen. Die Bauarbeiten für die erste U-Bahnlinie begannen um 1971 unter dem Regime von Park Chung-hee im Zuge seiner Fünf-Jahres-Pläne zur Modernisierung des Landes.
Gebaut wurde damals so kostensparend wie möglich in der offenen Bauweise. Dabei wurde eine Grube in der Mitte mehrspuriger Straßen ausgehoben, und der Tunnel bzw. die Stationen wurden darin gebaut. Nach der Fertigstellung des Rohbaus wurde die Grube wieder aufgefüllt und die Straße wieder asphaltiert. Um die Verkehrsbehinderungen während der Bauarbeiten so gering wie möglich zu halten, wurde, sobald die Baugrube tief genug war, eine Stahlkonstruktion errichtet, auf welche große Metallplatten gelegt wurden. Die Grube war somit überdeckt und der Verkehr konnte oberhalb der Aushebung auf diesen Platten normal weiterlaufen. Diese Bauweise wird, wenn es das die geografischen Gegebenheiten zulassen, bis heute verwendet. Die erste Linie führte vom Hauptbahnhof Seoul (Seoul Station) bis nach Chongryangri (Cheongnyangni). Von den beiden Endstationen aus fuhr die U-Bahn dann als normale Vorstadtbahn auf dem regulären Schienennetz der Korean National Railway (KNR). So steuerten manche U-Bahnlinien von der Seoul Station nahegelegene Städte wie Incheon oder Suwon an. Diese Nutzung des regulären Schienennetzes ist auch der Grund für den bis heute existierenden Linksverkehr auf der Line 1, welchen die Japaner während der Kolonialzeit eingeführt haben und der bis heute zumindest im koreanischen Eisenbahnnetz existiert. Ebenso wurde die erste U-Bahnlinie mit Hilfe japanischer Technik errichtet.
Die Eröffnung der ersten U-Bahnlinie im August 1974 war ein großes Ereignis. Die U-Bahn galt als modern und war ein Vorzeigeprojekt des damaligen Militärregimes, welches Südkorea von einem Entwicklungsland in eine Industrienation verwandeln wollte. Stolz war man vor allem auch darauf, dass man dieses Projekt komplett selbst finanziert hatte und keine Finanzhilfen oder Kredite von anderen Staaten in Anspruch nehmen musste.

Der Ausbau wurde zügig fortgesetzt. Vor allem, um die neu entstehenden Stadtviertel südlich des Han-Flusses (Gangnam) mit dem Stadtzentrum zu verbinden. Die U-Bahnlinie 2 wurde als Ringlinie durch die alten nördlichen- und die neuen südlichen Stadtviertel gebaut. Die Linie 1 kreuzte sich mit dieser an der Station City Hall. Im Bereich der Neubaugebiete im Süden wurde die U-Bahn zum Teil als Hochbahn in der Mitte der Straße gebaut. Der Bau der Linie 2 begann im Jahre 1977 und wurde im Mai 1984 abgeschlossen. Zeitgleich entstanden auch die ersten Teilstrecken der Linien 3 und 4. Beide wurden im Jahre 1985 eröffnet.

Eine Bauzeit von nur acht Jahren für insgesamt 105 Kilometer U-Bahnstrecke ist auch aus heutiger Sicht eine beachtliche Leistung und zeigt die Entschlossenheit, mit der das Regime des damaligen Diktators Chun Doo-hwan das Land in die Moderne führen wollte. Dies bedeutet gleichzeitig, dass Widerstände und Zweifel ohne Rücksicht auf Verluste aus dem Weg geräumt wurden. Auch, da zu dieser Zeit der Ausnahmezustand in Korea herrschte und der Bau so noch einfacher umgesetzt werden konnte. Zu diesem Thema schrieb die New York Times 1984 sogar: „Viele Städte bauen U-Bahnen, Seoul macht daraus einen Kreuzzug.“
Nicht zuletzt dank dieser Entschlossenheit konnte Südkorea aber zu den Olympischen Spielen 1988 seinen Gästen einen effizienten Nahverkehr präsentieren.
Diesen rasend schnellen Ausbau des Netzes zu minimalen Kosten kann man noch heute als Fahrgast in den Stationen erkennen. Die Wände in den älteren Stationen der ersten Linien sind in einfacher Fliesenoptik gehalten, die heute mit Werbeplakaten und Bildschirmen überdeckt sind. Die Stationen haben kein individuelles Design, sondern sind rein auf ihre Funktionalität reduziert. Vor allem die ersten Stationen und Tunnelbauten mussten schon nach kurzer Zeit wieder Reparaturen und Erweiterungen unterzogen werden, da bei der schnellen Bauweise Abstriche bei der Qualität gemacht werden mussten.

In den Jahren nach Olympia ging der Streckenausbau unaufhaltsam weiter. Insgesamt besteht das Metronetz mittlerweile aus neun U-Bahnlinien. Das Gesamtnetz des Großraumes Seoul mit seinen Nachbarstädten umfasst sogar 23 Nahverkehrs- und Metrolinien. Dazu gehören auch spezielle Linien wie der AREX Airport Express von Seoul Station bis zum Flughafen Incheon und die Everland-Bahn EverLine von Giheung zum Freizeitpark Everland.
Der Nahverkehr in Seoul macht es seinen Bewohnern heute leicht, auf ein Auto zu verzichten. Denn die Winkel der Stadt, die nicht durch eine U-Bahn erschlossen sind, erreicht man problemlos mit dem Bus. Jedoch gilt das Auto in Korea als Statussymbol. Aus diesem Grund sind die Straßen Seouls trotz der guten Nahverkehrinfrastruktur täglich verstopft, und der Smog in der Stadt nimmt immer größere Ausmaße an. Somit wird der öffentliche Nahverkehr unermüdlich ausgebaut.
Allerdings werden auch immer mehr Projekte für ein fußgängerfreundlicheres Seoul umgesetzt. Die Bevölkerung soll mit autofreien Sonntagen in einigen Bezirken zwischen März und Oktober sowie dem, in diesem Zusammenhang im Jahr 2019 veranstalteten, „Seoul Walk and Bike Festival“ zwischen Gwanghwamun und dem Banpo-Park auf den Geschmack des Radfahrens und Laufens kommen. Auch werden Gehsteige und Fußwege verbreitert und mit mehr Grünanlagen verschönert.
Des Weiteren gibt es ein Remodeling- Programm, um die schmucklosen U-Bahnstationen zu öffentlichem Raum für Kunst und Kultur umzugestalten. Die Pilotstation Yeongdeungpo Market (Linie 5) wurde als Teil des “Culture & Art Railway Project” im Juli 2020 eröffnet. Unter dem Motto “Neuentdeckung des (lokalen) Marktes” wurden auf insgesamt sechs Ebenen der Station Kunstprojekte mit hochkarätigen südkoreanischen Künstlerinnen und Künstlern umgesetzt, ein Café gebaut und öffentlicher Raum, der für Flohmärkte und Ausstellungen genutzt werden soll, geschaffen.
Jedoch steht eines der größten Projekte des Seouler Nahverkehrs noch bevor: der neue GTX (Great Train Express). Hinter diesem Namen verbirgt sich ein Hochgeschwindigkeits-Nahverkehrs-Netz, welches mit insgesamt drei Linien die Metropolregion und das Umland noch schneller mit dem Seouler Zentrum verbinden soll. Die GTX-Linie A wird von Ilsan, nördlich von Seoul, bis nach Dongtan, weit im südlichen Umland, verlaufen. Bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 116 km/h wird sich die Reisezeit von Ilsan nach Seoul Station von heute 52 Minuten auf dann nur noch 13 Minuten verkürzen. Neben einer neuen Station vierzig Meter unter der Seoul Station ist mittlerweile sogar eine Station unter dem Gwanghwamun Plaza im Gespräch. Neben der Linie A, welche ihren Baustart am 27. Dezember 2018 hatte, sind auch die Pläne für Linie C schon sehr konkret. Diese soll auf der Fahrt zwischen der Stadt Yangju und der Stadt Suwon in der Provinz Gyeonggi-do die Hauptstadt Seoul von Norden nach Süden durchqueren. Eine weitere Linie B könnte die Insel Songdo bei Incheon mit Seoul verbinden. Ziel ist es, das Einzugsgebiet von Seoul bei gleichzeitiger Reduzierung der Pendelzeit zu vergrößern. Somit soll auch neuer Wohnraum weit außerhalb der Stadt erschlossen werden, um das aus allen Nähten platzende Stadtgebiet zu entlasten. Die Kosten für dieses Projekt werden nach ersten Einschätzungen umgerechnet rund 4,4 Milliarden Euro betragen.
Zusammenfassend kann folgender Punkt festgehalten werden: Südkorea investiert extrem viel Geld, um den Nahverkehr der Hauptstadt stetig zu verbessern und das Angebot auszubauen. Dabei geht die Stadtverwaltung mit Projekten wie dem GTX auch gänzlich neue Wege. Es bleibt also spannend im Untergrund von Seoul.
In abgewandelter Form erstmals veröffentlicht in “Kultur Korea” Printausgabe 1/2020
Quellen:
Neidhart, Christoph (18.03.2018): “Seoul hat das längste und beste ÖPNV-System der Welt”. Süddeutsche Zeitung SZ Online. https://www.sueddeutsche.de/auto/sz-serie-nahverkehr-weltweit-seoul-hat-das-laengste-und-beste-oepnv-system-der-welt-1.3902703.
Schleife, Hans-Werner (1992): “Metros der Welt”. Transpress.
Seoul Metropolitan Government (11.05.2020): “서울시, 14개 노후 지하철 역사 열린 문화예술공간 탈바꿈”. https://news.seoul.go.kr/traffic/archives/503136.
Gastautor Joachim Dirauf
arbeitet als Ingenieur für Schienenfahrzeuge. Der Hobbyfotograf lernte die südkoreanische Verkehrsinfrastruktur auf seinen zahlreichen Reisen nach Korea kennen.