Tödlicher Zwischenfall im Gelben Meer

Nordkoreanische Soldaten erschossen am vergangenen Dienstag einen südkoreanischen Beamten auf offener See. Der Fall hinterlässt viele Fragen: Wollte der Mann nach Nordkorea flüchten? Wo sind seine sterblichen Überreste? Und warum erfuhr die Öffentlichkeit erst mit Verspätung von dem Vorfall?

Seoul, Südkorea Ob je endgültig geklärt werden kann, was am vergangenen Dienstag, den 22.09.2020, an der innerkoreanischen Seegrenze im Gelben Meer geschah, ist auch knapp eine Woche nach dem Unglück fraglich. Sicher ist: Am Tag zuvor war ein 47-jähriger südkoreanischer Beamter, der dem Ministerum für See und Fischerei (Ministry of Oceans and Fisheries) angehörte, während seines Dienstes von einem Schiff des Ministeriums verschwunden. Das Schiff hatte Erkundungen in der Nähe der Insel Yeonpyeong im Gelben Meer nahe der Grenze zu Nordkorea angestellt. Der Mann trieb auf noch ungeklärte Weise in nordkoreanisches Gewässer, wo ihn am Dienstag nordkoreanische Soldaten entdeckten und erschossen. Zum Zeitpunkt des Geschehens trug der Mann eine Rettungsweste und hielt sich an einem unidentifizierten Objekt fest.

Officials from what appears to be a Coast Guard vessel conduct an on-site inspection of a South Korean fishery patrol vessel, anchored near the de facto inter-Korean sea border in the Yellow Sea, on Sept. 25, 2020. A Ministry of Oceans and Fisheries employee, who boarded the vessel, went missing on Sept. 21 while carrying out duties in waters off the western island of Yeonpyeong in the Yellow Sea and was killed by North Korean soldiers the following day. (Yonhap)
Ein Schiff der Küstenwache inspiziert am 25.09.2020 das Schiff des Ministerums für See und Fischerei nach dem Verschwinden des 47-jährigen Beamten.
(Foto: Yonhap News)

Am Donnerstag, den 24.09.2020, verkündeten Vertreter des südkoreanischen Militärs, der Mann habe nach Nordkorea überlaufen wollen und sei mit Absicht von dem Schiff gesprungen. Dafür sprächen drei Indizien: 1. Die verschwundene Person habe sich, mit einer Rettungsweste bekleidet, vom Meeresstrom in nordkoreanische Gewässer treiben lassen bzw. sei aktiv in diese Richtung geschwommen. 2. Der Mann habe seine Schuhe an Bord zurückgelassen. 3. Er habe Spielschulden in Höhe von 330 Millionen Won (ca. 240.700 Euro) und sei dadurch in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Auch nach Untersuchungen auf dem Schiff bleibt die südkoreanische Küstenwache bei dieser Theorie. Ein Selbstmordversuch oder ein Unfall werde für nicht wahrscheinlich gehalten. Eindeutige Beweise gibt es nicht. Auf einer Pressekonferenz des Foreign Correspondents’ Club (FCC) in Seoul am 29.09.2020 wiedersprach der ältere Bruder des Toten dieser Darstellung der Küstenwache, die er eine Fantasiegeschichte nennt, vehement. Weiter wirft er den südkoreanischen Behörden vor, zu wenig getan zu haben, um seinen Bruder nach dessen Verschwinden zu finden und zu retten.

Auch Nordkorea dementiert, dass der südkoreanische Beamte in den Norden habe überlaufen wollen. In einer Nachricht des sogenannten “North’s United Front Department”, einer nordkoreanischen Spionageinstitution zuständing für innerkoreanische Angelegenheiten, wurde der Zwischenfall anders erklärt: Die Soldaten hätten sich der Person auf 40 bis 50 Meter genähert und gemäß dem militärischen Protokoll mit der Befragung der Person begonnen. Der Mann habe nicht kooperiert, seine Absichten nicht offengelegt. Auf die Fragen der Soldaten habe er lediglich geantwortet, dass er Südkoreaner sei. Eine Absicht, in den Norden überzulaufen, habe er nicht geäußert. Als der Mann dann versucht habe, sich von den Soldaten zu entfernen, wurden zehn Schuss auf ihn abgefeuert. Die Soldaten hätten sich dann bis auf 10 Meter der Stelle genähert, aber nur noch Blut und Treibgut vorgefunden. Dieses hätten sie, gemäß dem Protokoll zum Schutz vor dem Coronavirus, mit Öl übergossen und in Brand gesteckt. Damit wiederspricht Nordkorea der Darstellung des südkoreansichen Militärs in einem weiteren Punkt. Von südkoreansicher Seite hieß es zunächst, die Leiche des Mannes sei noch an Ort und Stelle verbrannt worden.

Eine weitere Besonderheit dieses Zwischenfalls an der innerkoreanischen Grenze ist die Reaktion des sogenannten „Obersten Führers“ der Demokratischen Volksrepublik Korea Kim Jong-un. Dieser übermittelte am vergangenen Freitag eine Entschuldigung. Wörtlich hieß es in dem Schreiben: “In unseren Gewässern hat sich ein beschämender Vorfall ereignet. Ich bedaure dies und die damit verbundene große Enttäuschung, die Präsident Moon Jae-in sowie den südkoreanischen Landsleuten zugefügt wurde, zutiefst.” Diese Entschuldiung des nordkoreanischen Autokraten wurde in Südkorea mit ebenso großer Überraschung wie Verwunderung zur Kenntniss genommen. Es sei das erste Mal, dass sich ein nordkoreanischer Staatsführer entschuldige, so berichten südkoreanische Nachrichtensendungen.

Der südkoreanische Nachrichtensender YTN berichtet über Kim Jong-uns Entschuldigung.
(Foto: https://www.youtube.com/watch?v=K7tnuJuX_SE&t=602s)

Darüber hinaus sorgt der südkoreanische Präsident Moon Jae-in und seine Handhabung der Situation für Gesprächsstoff. Die größte Oppositionspartei, die sogenannte People Power Party (PPP), kritisiert Moons Nachgiebigkeit und fehlendes Durchsetzungsvermögen gegenüber dem Norden. Dem südkoreanischen Verteidiungsministerium lägen Geheimdienstinformationen vor, die bestätigen, dass der Körper des Toten mit Öl übergrossen und verbrannt worden sei, so Joo Ho-young, Fraktionsvorsitzender der PPP. Außerdem verlangte die südkoreanische Regierung nach der Entschuldigung von Kim Jong-un nach einer gemeinsamen Untersuchung des Vorfalls und äußerte Absichten, hierzu die militärischen Kommunikationseinrichtungen zwischen den beiden Ländern wieder in Betrieb zu nehmen. Eine Antwort Nordkoreas lässt noch auf sich warten.
Außerdem berichten südkoreanische Medien, Präsident Moon habe 47 Stunden von dem Vorfall gewusst, aber die Öffentlichkeit nicht informiert. So soll dieser bereits am Abend des 22.09.2020 das erste Mal über die Geschehnisse unterrichtet worden sein, die südkoreanische Bevölkerung erfuhr davon erst zwei Tage später.

Der Mord am dem südkoreanischen Beamten zeigt, wie wenig sich nach dem innerkoreanischen Gipfeltreffen vor zwei Jahren in der Beziehung der beiden Ländern verändert hat. In Nordkorea herrscht auch nach Kim Jong-uns Auftritten auf der politischen Weltbühne nach wie vor ein autokratisches Unrechtsregime mit Willkür und Unberechenbarkeit. Darüber hinaus wirft dieser Fall auch ein Schlaglicht auf den tiefen Graben in der politischen Landschaft Südkoreas und die wachsende Kritik an Präsident Moon.

Der Umgang mit Nordkorea war, ist und bleibt eine Herausforderung – nicht nur für Südkorea, sondern auch für die politische Weltgemeinschaft.
(Foto: Joachim Dirauf)

Auch wenn in diesem tödlichen Zwischenfall an der innerkoreanischen Grenze noch viele Frage zu klären sind, so ist es nicht der erste seiner Art. Ein ähnlicher Vorfall hatte sich zum letzten Mal vor zwölf Jahren ereignet, als eine südkoreanische Touristin von nordkoreanischen Soldaten im Kumgang Gebirge erschossen worden war, weil sie militärisches Sperrgebiet betreten hatte. Nach diesem Vorfall war jeglicher Tourismus aus Süd- nach Nordkorea eingestellt worden.

Quelle: Yonhap News, YTN News